Vergiss mich nicht

Content warning. May contain spoilers.

death, emotional trauma

a short story by Najem Eisa, German

Deine Lieblingsblume war Vergissmeinnicht. Mir wurde es damals klar, als du auf unserem letzten Spaziergang zusammen, im Walde hinter deinem Haus, sie zum ersten Mal dieses Jahr erblicktest. Du sagtest mir, wie sie ihren Namen bekam; wie sie von Gott, oder wem auch immer, fast vergessen wurde und dann doch eben nicht. Du sagtest mir, wie schön sie doch sei: so schön delikat, so schön blau, so schön klein. Du wolltest sie mit nach Hause nehmen, aber irgendwas hielt dich zurück. Du sagtest mir nicht, was dieser Grund war. Du erläutertest zwar, dass es das einzige Vergissmeinnicht weit und breit war und wo gehört es doch besser hin als im Walde hinter deinem Haus. Aber ich wusste, dass da noch was anderes war.

Es war ein Dienstag, der letzte Tag, an dem ich dich sah. Erinnerst du dich an meinem siebten Geburtstag? Wir hatten damals entschieden, dass Dienstag unser Glückstag ist. Denn wir beide erblickten die Welt an einem Dienstag: du im Januar und ich im Mai. 4 Monate und 10 Tage auseinander. So lange musstest du ohne mich auskommen. Mir ist es immer noch verwunderlich, wie du das überlebtest. Und nun war es wieder ein Dienstag und wir gingen wieder spazieren und du erzähltest mir, wie Rami sein Schlüsselbein brach, weil er eine Brücke vom Tisch zum Sofa machen wollte und war das doch eine dumme Idee, aber es war Rami, und es war ihm herzlich egal. Und du erzähltest mir von Acacia, wie sie letzte Woche, nach dem ich wieder gegangen war, ihre ersten Schritte machte. Oh, und wie ich Acacia vermisse. Sie war die Schwester, die ich immer gebraucht habe. Sie war so sorglos, so befreit. Ich fühlte mich schuldig, als sie ihr erstes Wort sprach, damals, als ich auf sie aufpasste, weil du und deine Familie im Nachbardorf eingeladen wart. Du wolltest es mir nicht glauben und als ihr euer Besuch vorzeitig abbracht, und nach Hause eiltet, weil Acacia ihr erstes Wort sprach, das konntet ihr doch nicht verpassen, da sang sie es immer noch in Chören: ‚Hadiii‘, ‚Hadii‘, ‚Hadi‘.

Ich weiß noch, wie du verstummtest. Wenn du weinst, verstummst du. Du gibst keinen Laut von dir. Du hieltest sie in deinen Armen und deine Tränen flossen in die ihre Augen. Ich sah dich zuvor nur einmal weinen, in der Notaufnahme in Schweden. Du knicktest um, weil das Licht im Treppenhaus nicht rechtzeitig anging und geduldig warst du ja eigentlich schon aber damals nicht, denn die Sonne wartet ja nicht und der Strand macht sich ja auch auf dem Weg, wenn man nicht rechtzeitig antanzt. Damals wie heute kam kein Laut aus dir raus. ,Warum‘ habe ich mich immer gefragt und das wollte ich dich auch fragen, tat ich jedoch nie. An jenem Dienstag war die beste Gelegenheit, das zu tun, aber dann sah ich die Freudentränen in deinen Augen, als du das Vergissmeinnicht erblicktest, und da war sie wieder.

Stille.

Und der Wald um uns auch. Und mittendrin du und ich und die Blume. Ich erzählte dir von Mama und wie sie wieder ihre depressive Episode hat, durch welche sie sich mehr schlecht als recht durchkämpft. Du und sie seid immer gut klargekommen. Ich mochte euch zusammen. Erinnerst du dich an Saint-Julien-en-Borne, 2016? Mir ging es die Nacht über nicht gut und du und Mama seid so früh aufgestanden, um auf den Markt zu gehen und mir danach eins meiner und deiner Lieblingsgerichte zu machen: مطبق. Und wie ich Mama kannte, wunderte ich mich nicht, als du mir, mit ganz viel Hilfe und schüchternen Blicken zu Mama hin, aufsagtest, dass ihr بندورة, بصل, باتنجان und كوسا eingekauft habt. Du sahst so aus, als würdest du vor einer Kommission stehen und eine mündliche Prüfung abhalten, aber du hieltest dein Kopf hoch und sagtest voller Selbstbewusstsein: سلامتك حبيبي und du sahst so gut dabei aus und ich war in deinen Augen verloren aber dein Arabisch war immer ‚speziell‘ und ich konnte nicht anders, als mich vor Lachen auf die Seite zu drehen. Ich kriegte mich wieder langsam ein und sagte dir ً شكرا, aber du wusstest nicht, wie man bitte sagt also schautest du zu Mama hin, wie sie dir ganz langsam zuflüsterte und du hattest das erst garnicht versucht. Du hattest diese عفوا Sprache immer gerne lernen wollen, aber schlussendlich reichte dir Deutsch und mir genügte das auch, denn ich wollte nur, dass du mich verstehst.

Mama hattest du länger nicht gesehen. Sie schließt sich immer aus, wenn es ihr nicht gut geht. Das letzte mal, als du sie sahst, brachtest du Blumen mit. Nelken und Rosen. Wissen, konntest du das nicht. Oder doch?

So sehr du dich mit Mama unterhieltest, konnte ich das nicht ausschließen. Denn mein Bruder war die Rose und ich die Nelke–der Storch hatte zufällig an unseren beiden Geburtstagen Urlaub bzw. er hatte uns gar nicht richtig auf dem Radar, denn nach Blumen hatte er keine Ausschau gehalten, erst recht nicht nach der Rose, wo mein Bruder wohnte und nach der Nelke, wo ich hauste. Und so pflückte uns unser Vater aus dem Feld und meine Mama roch daran und ihr Bauch wurde groß und wir kamen auf die Welt. Beide an einem Dienstag. Genau so wie du. Genau so, wie an dem Tag, an dem wir unseren letzten Spaziergang hatten und ich dir all das erzählte. Aber es war nicht alles. Trotzdem nahmst du den Weg rechts und ich links, denn du wohntest im Haus vor dem Walde und ich nicht. Ich musste zum Krankenhaus, zu Mama, die ich grüßen sollte und die sich darüber unglaublich freute. Sie vermisste dich und ich dich auch schon. Du riefst an, um dich bei mir für den schönen Spaziergang zu bedanken und du fragtest, ob wir das nächste Woche doch nicht wieder machen wollen. Meine Antwort lautete ja.

Es war Mama, die mich ermutigte, diesen Brief zu schreiben. Sie wusste das schon immer. Du und ich. Ich und du. Das musste ich ihr nicht sagen. Das musste ich wohl niemanden sagen. Den Brief, den ich dir auf unserem letzten Spaziergang geben wollte, hatte ich fünfmal angefangen und wieder verworfen, dreimal zerkratzte Henri diesen. Henri war dein Lieblingskater von den beiden. Er hatte weiße Pfoten und sein Bruder Barni nicht. Seine Pfoten hinterließen eine Spur, als er über mein mit Füller geschriebenes Blatt ging. Diese Spur, die du jedes Mal, wenn du den Brief wieder liest, mit den Finger nachspürst. Jedes Mal, fängst du dabei an, zu weinen. Und jedes Mal verstummst du aufs Neue. Genau so wie ich, an jenem Tag, als wir uns zum Spazierengehen treffen wollten. Du wartetest schon und trotzdem nahm ich den langen Weg zu dir. Ich fühlte Gefühle, die ich davor nicht gefühlt hatte. Schmetterlinge stellte ich mir sanft vor, also entschied ich mich dafür, Wespen im Bauch zu haben. So sehr ich das wollte, ich konnte dir diesen Brief nicht geben. Ich konnte es dir nicht geben. Denn ich starb auf diesem langen Weg zu dir. Später, als ich Mama begleitete, erfuhr ich, dass die Bremsen im Auto versagten. Der Arzt sagte meiner Mutter, dass ich es nicht mitbekommen hätte. Es wäre so schnell gegangen, dass mein Gehirn es nicht mitbekommen haben konnte. Aber so recht weiß ich nicht. Ich weiß nicht, was ich in dem Moment fühlte: ich wusste nur, dass ich Wespen im Bauch hatte und dass ich dir diesen Brief geben wollte. Du bekamst den, als du Mama ein paar Tage nach der Beerdigung auf einen Spaziergang eingeladen hattest. Sie war leer. Leerer als ein Vakuum. Mein Bruder musste einen doppelten Kampf mit meinem Tod führen: er musste selbst klarkommen und sich um Mama kümmern, die sich zu Hause verkrach, das Geschirr zwei Wochen lang nicht abspülte und wenig bis kaum was aß. Aus dem Spaziergang wurde ein Sonnenband in der Maisonne. Genießen konntest du das nicht, wie auch. Wut, Trauer, Übelkeit, Rast- und Machtlosigkeit. Der Brief entpuppte sich eher als eine Notiz. Weder ich noch du waren große Freunde der Literatur und uns genügten die Kleinigkeit völlig. Auf die kommt es doch im Endeffekt, wenn alles vorbei ist, an. Oder?

هل تعد نجوم اليوم؟ فانا اعتمد فيك.
هل تبحث عن شيئ في بحر الزهور؟ فانا وردتك الحبيبة.

Mama konnte dir das gerade nicht übersetzen, es war ihr einfach zu viel. Das konnte sie dir auch dann, auf euren allwöchentlichen Spaziergängen, nicht. Du nahmst sie mit zum Vergissmeinnicht, wo du schließlich anfingst, zu weinen. Mama nahm dich in die Arme und ab da wart ihr eine Einheit. Deine Stille wurde von Mamas Schluchzen nur so ausradiert, aber wohin ihr auch wolltet, das Meer im Walde verschluckte euch immer und immer wieder und Welle um Welle, gelangtet ihr jedes Mal zurück zu mir. Denn, für mich, gab es diesmal keine Nelke. Keine Rose. Aber dein Vergissmeinnicht. Denn du vergisst mich nicht. Und ich dich noch weniger. Und doch wünsche ich mir, dass ihr mich vergesst. Ich ertrage es nicht, euch so zu sehen. Ihr umarmt euch und fühlt euch trotzdem allein; ihr seid das aber nicht, denn ich bin auch da und umarme euch, ganz doll, ganz fest, ganz lange.

Am Ende hast du in meinen Armen geweint.

Am Ende habe ich in meinen Armen geweint.

Die Maisonne verabschiedet sich und mit ihr, ich. Jedes Mal, wenn sich diese fünf kleinen Blätter schließen und ich mich von dir trennen muss, wünsche ich mir, dass du mich damals mit dir nach Hause genommen hättest und mich auf deine Fensterbank gestellt hättest. Aber du sagtest mir nicht warum. Du gingest fort und ließest mich allein. Denn ich war das einzige Vergissmeinnicht weit und breit, und wo gehörte ich doch besser hin als im Walde hinter deinem Haus.

Ende.

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