Paule

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car accident, death

a short story by Karlotta Harms

„Hörst du mich?“, er klingt schon wieder genervt, dabei steht nicht er, sondern ich vor der riesigen Backwarenabteilung mit einem unleserlichen Einkaufszettel in der Hand. Woher soll ich bitte wissen, welches Gebäck seine Männer mögen und welches nicht? Ich stoße einen langen Seufzer aus, um meine Fassung zu bewahren. „Ich kann dich sehr wohl hören. Ich habe mich bewusst entschieden, dir nicht zu antworten“, zische ich in den Hörer. „Ich muss Paule gleich von der Schule abholen, also kannst du mir jetzt bitte sagen, was du brauchst? Sonst fahre ich wieder und du kannst den Scheiß allein besorgen!“ Ich gebe zu, nicht aus der Fassung zu geraten, hört sich anders an, aber was soll’s. Jedenfalls hat es Früchte getragen, denn er rückte endlich mit der verdammten Liste an Backwaren raus, die ich zu besorgen hatte. Ich beende das Telefonat, da mein Gespräch mit dem Handy wohl doch mehr Aufsehen erregt hat, als mir lieb ist. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass keine Zeit zum Stöbern bleibt, also drängele ich mich an den anderen, in Ruhe schlenderten Käufern vorbei zur Kasse. Die Schlange war lang, aber ich hatte Glück, dass ein ziemlich junger, netter Kerl kassiert hat und dies in einem akzeptablen Tempo. Trotz dessen piept meine Uhr, aber ich schenke ihr keinerlei Beachtung. Paulina muss heute noch zum Tanzen und der Zeitplan war jetzt bereits eng getaktet. Zu spät an der Schule zu sein, war also keine Option. Ich eile so schnell ich kann zu meinem Wagen, den ich glücklicherweise nahe dem Eingang geparkt hatte und fahre, mit den Backwaren beladen, los. Mein Kopf hämmerte und auch die blöde Uhr meldete sich wieder zu Wort. Ich musste mich endlich
beruhigen. Ich fuhr auf den Parkplatz der Schule und mir kamen zum Glück etliche Schüler entgegen, die ähnlich spät dran waren wie ich. Ich griff nach der Schultasche, die durch die turbulente und hitzige Autofahrt auf dem Boden gelandet ist und legte einen kurzen, aber effektiven Sprint zum Klassenraum hin. Auf die Minute genau! Ein kleiner Siegesschrei entfuhr mir und ich blickte mich verlegen nach Augenzeugen meines Ausbruchs um. Aber es schenkte mir niemand auch nur jegliche Beachtung. Ich betrat den Klassenraum und stellte erleichtert fest, dass auch der Lehrer noch nicht zu sehen war. Ich ließ mich entspannt auf meinen Sitz gleiten, da wurde ich im nächsten Moment auch schon wieder hochgezogen. Ein sehr hübsches, junges Mädchen, mit langen, braunen Locken stand mir gegenüber. Ihre faszinierenden grünen Augen bohrten sich in meine und hielten meinen Blick gefangen. Sie hielt mich immer noch mit beiden Händen an meinen Oberarmen fest und sah beinahe wütend aus. Ich wollte mich gerade bei ihr entschuldigen, weil ich annahm, ihren Platz gestohlen zu haben, als sie ein zuckersüßes Lachen ausstieß und vor Freude quiekte. So langsam fühlte ich mich unangenehm in ihrer Gegenwart. Ich setzte ein verhaltenes Lachen auf und versuchte, mich ihren Händen zu entziehen. Aus dem Plan wurde nichts, da ich in eine stürmische Umarmung hineingezogen wurde. Während sie mich hin und her drehte, quiekte sie in mein Ohr: „Ich bin so froh, dass du wieder da bist Paule! Aber warum hast du mir nichts erzählt?“ Mein Blut gefror zu Eis und ein seltsames Gefühl kroch meine Wirbelsäule hinauf. Kurz darauf wurde mein Sichtfeld schwarz und ein beißend, helles Licht flog auf mich zu. Das Mädchen entfernte sich ein Stück von mir und in dem Moment, kehrte auch ihr Gesicht wieder vor meine Augen. Der Moment war so schnell vorbei, dass ich mir beinahe eingebildet hätte, er wäre gar nicht da gewesen. Sie hingegen schien nichts von meinem kurzen Ausflug in die bevorstehende Bewusstlosigkeit mitbekommen zu haben, da sie mich noch immer genauso anstrahlte wie vorher. Mir kamen ihre Gesichtszüge seltsam vertraut vor, aber das tat jetzt nichts zur Sache. Wie hatte sie mich gerade genannt? Irgendetwas an ihrem Gesagten hat eine derartige Reaktion meines Körpers hervorgerufen. Aber sie hatte so schrill und laut gesprochen, dass ich Mühe hatte, überhaupt etwas zu verstehen. Ihr Mund öffnete sich, aber ich kam ihr zuvor: „Wie hast du mich gerade genannt?“ Ich weiß nicht, ob es meine kehlige Stimme war oder ob ich so aussah, wie ich mich gerade fühlte, aber ihr Lächeln verblasste binnen Sekunden. Sie schien über meine Frage nachzudenken, wandte sich aber nach wenigen Minuten des Schweigens von mir ab, ging zu ihrem Platz und drehte sich dann noch einmal zu mir um: „Ich bin froh, dass du wieder da bist. Wir schaffen das.“ Sie schenkte mir ein warmherziges Lächeln, griff nach ihrer Tasche und ging aus der Haustür. Ich stand noch eine Weile wie versteinert im Flur, bis ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte. Das war wirklich merkwürdig. Es schwirrten hunderte von Fragen in meinem Kopf, aber ich konnte keine einzige festhalten. Meine Gedanken waren derart vernebelt, dass ich die Fragen, wenn überhaupt, als Schatten vorbeihuschen sah. Mein Kopf schmerzte. Ich hatte wahrscheinlich wieder nicht die Zeit zum Trinken gefunden. Ich schlenderte in Richtung Küche und schenkte mir ein Glas Wasser ein, was ich in einem Zug leertrank. Mein Handy vibrierte und zeigte einen eingehenden Anruf an. Den Namen konnte ich nicht entziffern, aber ich hob trotzdem ab, nicht, dass sich die Schule wieder meldete. „Schatz, kannst du mich hören? Hey,…. Hhh…örs…tt“, danach verstummte der namenlose Anrufer. Dieser blöde Empfang in der Küche. Genervt stand ich vom Stuhl auf, um mich ins Wohnzimmer zu begeben. Das Handy an meinem Ohr lauschte ich nach weiteren Wortfetzen des Anrufers. Aber da kam nichts. Die Leitung war tot. Wieso sind manche Menschen so? Wut keimte in mir auf, aber ich versuchte sie schnell wieder zu regulieren. Am Steuer sollte man sich schließlich aufs Fahren konzentrieren. Ich fuhr auf einer im Wald gelegenen Landstraße und weit und breit war kein Autofahrer zu sehen. Moment mal, ich drückte so schnell und hart ich konnte auf die Bremse. Ich war völlig außer Atem und meine Hände zitterten unkontrolliert. Irgendetwas stimmt hier nicht. Wie bin ich im Auto gelandet? War die einzige Frage, die mein verwirrtes Hirn in einen Gedanken umformulieren und greifen konnte. Hektisch sah ich mich um, nach einem Straßennamen, nach Häusern in der Ferne oder irgendetwas, was mir verriet, dass ich nicht komplett den Verstand verloren hatte. Der Tag heute war schon verwirrend genug, wobei ich mich an vieles nicht erinnern konnte. Aber egal, auch das tut jetzt nichts zur Sache. Die Straße war immer noch menschenleer, mittlerweile zitterte ich am ganzen Körper und hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Mein Fluchtinstinkt setzte ein. Ich muss raus aus diesem Auto. Meine Instinkte übernahmen, ich stolperte blind aus dem Auto und landete unsanft auf meiner Hüfte. Ein gleißender Schmerz durchfuhr mich, meine Augen weiteten sich vor Schreck. Ich bin mir sicher, dass ich schrie, aber es war zu weit weg, als dass ich es mit Sicherheit hätte sagen können. Erneut verließ mich mein Augenlicht und es wurde dunkel. Ich hörte mich selbst oder jemand anderen keuchen, ich weiß nicht, wer oder was es war. Da war auch eine Art durchdringender Läut- oder Piepston, der die Luft durchschnitt. Dann war da wieder das helle Licht, es kam definitiv auf mich zu. Zwei große, leuchtende Kreise. Ich duckte mich, in der Hoffnung dem sich nähernden Licht ausgewichen zu sein. Stattdessen kehrte ich in die Wirklichkeit zurück und fand mich auf dem harten Asphalt der Landstraße wieder. Meine Hüfte schmerzte, weshalb ich beschloss, erstmal sitzen zu bleiben und mich zu beruhigen. Der Piepston hallte noch immer in meinem Ohr nach, ich war schweißbedeckt und kam nur langsam wieder zu Atem. Ich lehnte mich mit dem Rücken an das Auto hinter mir. Was verdammt ist los mit mir? Erneut war der Nebel in meinem Kopf zu dicht, um ihn zu durchdringen. Ich konnte weder Revue passieren lassen, von dem Moment, der sich vor meinen inneren Augen abgespielt hat, noch konnte ich überhaupt sagen oder besser gesagt fragen, wie ich in dieses Auto gekommen bin. Oder wo ich hinwollte. Es war, als wenn … ich weiß es nicht. Ich versuchte mich aufzurappeln, die Hand dabei auf die schmerzende Hüfte gedrückt. Ich drehte mich um, immer noch auf der Suche nach einem Ortsschild, vergebens. Ich humpelte zur Autotür, als meine Hände wieder anfingen zu zittern, mein Atem sich beschleunigte und mein Kopf schrie: „NICHT IN DAS AUTO!!!“ Witzig, dass mein Kopf zu keinem klaren Gedanken fähig ist, aber dennoch meint, mir Befehle erteilen zu können. Wenigstens habe ich nun eine Erkenntnis: warum auch immer, aber ich habe Angst vor diesem Auto. Oder Autos im Allgemeinen? Oder hat mein Körper bloß Angst, dass ich mich wieder aus dem Auto rolle? Na gut, wohl doch keine Erkenntnis für heute. Ich entfernte mich wieder vom Wagen und ging, humpelnd die schlecht beleuchtete Straße entlang. Während ich zu den Bäumen empor starrte und fasziniert von dem sich mir bietendem Lichtspiel der untergehenden Sonne und dem Schatten der Bäume war, tippte mir eine Hand auf die Schulter. Hektisch drehte ich mich um, ich hatte schließlich niemanden kommen gehört. Eine Frau, Mitte vierzig, stand mir gegenüber und hob erwartungsvoll die Augenbrauen. Sie hatte die Haare zu einem strengen Dutt gebunden, trug einen Trainingsanzug und war mittlerweile deutlich genervt von meinem Schweigen. Es dauerte ein wenig, bis ich den Schock abschütteln konnte und meine Stimme wiederfand. „Tut mir leid, was hatten Sie gefragt?“, stammelte ich vor mich hin. Ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt etwas gefragt hatte, aber so wie sie mich ansah, wirkte es so. „Kannst du mich hören?“, es war deutlich eine Frage gewesen, aber warum war diese Frage so vertraut? Es bildeten sich kleine Lachfalten um ihren Mund, als sie ihre Lippen zu einem genervten, aber dennoch ernst gemeinten Lächeln verzog. Vermutlich sah man mir meine Verwirrung an, da ich kaum versucht hatte, diese zu überspielen. „Da ist wohl jemand aufgeregt, was? Du bist gleich dran, du schaffst das, Paule. Deine Mama wäre stolz auf dich.“ Mein Herz setzte aus. Wieder kroch dieses unerbittliche Gefühl meine Wirbelsäule hoch. Dann erklang ein lauter, schriller Pfiff. Die Frau nickte mir motivierend zu und schob mich durch den dunklen Vorhang. Ich fand mich vor einer riesigen Menschenmenge wieder, die alle jubelten und klatschten. Unsicher stellte ich mich in die Mitte der Bühne. Was passiert hier? Ich war doch gerade noch … ganz woanders, oder nicht? Die Menschen wurden leiser, mein Herz hämmerte gegen meine Brust und dann verlief alles wie in Zeitlupe. Der erste Ton des Liedes, zu dem ich gleich tanzen sollte, ertönte. Dann der Zweite. Ich erkannte das Lied sofort, es ist ein Klavierstück, „Solas“. Es ist ein so wunderschönes Stück. Ich weiß nicht, ob mein Herz wieder einsetzte nach dem dritten Ton, oder ob es für immer verstummte. Die Erinnerungen brachen über mich hinein und schwemmten mich davon. Ich sah wieder die beiden runden Lichter, die auf mich zukamen. Ich hörte das schrille Piepsen meiner Armbanduhr. Sie wollte mich darauf hinweisen, dass mein Herz viel zu schnell schlug. Viel. Zu. Schnell. Aber ich musste Paulina doch abholen, von der Schule. Ich musste sie abholen, damit sie noch rechtzeitig zum Tanzen kommt, aber vorher noch essen kann. Meine Paule muss doch etwas Warmes gegessen haben. Es sollte Lasagne geben, die hatte ich doch extra vorbereitet. Und Danny, er sollte auch die blöden Backwaren bekommen. Für sein Männertreffen. Auf das er viel zu oft verzichtet wegen meines blöden Herzens. Mein verdammtes Herz. Deshalb piepte die blöde Uhr. Ich hätte anhalten sollen, als ich es noch konnte. Aber dann wurde mir schwarz vor Augen. Als ich sie öffnete, sah ich die Scheinwerfer des anderen Autos auf mich zurasen. Es war nicht seine Schuld. Er konnte nicht bremsen. Ich hätte nicht fahren sollen. Ich hatte schreckliche Schmerzen, das weiß ich noch, aber ich weiß nicht mehr wo. Es tat überall weh. Ich hörte Schreie, ein lautes Aufeinanderkrachen von Metall auf Metall. Ich wusste, dass es nicht gut war. Jetzt sehe ich mich am Klavier. Ich spiele dieses wunderschöne Stück von Jamie Duffy. Ich liebe dieses Stück. Paule liebt es. Ich sehe sie neben mir auf dem Hocker sitzen. Mein wunderschönes Mädchen. Ihre wunderschönen, großen Augen strahlen. Das tun sie immer, wenn ich Solas spiele. Deshalb spiele ich es so oft. Ich sehe Paule vor mir, wie sie endlich zur Schule darf. Sie war schon immer so ein schlaues Mädchen. Ihr Papa war sich sicher, dass sie es von ihm hat. Ich bin da ganz anderer Meinung. Ich sehe Danny, Paule und mich am Strand, in unserem Haus am Kochen und Lachen. Ich höre ihr Lachen, als sie Danny aus Versehen die Tomatensauce ins Gesicht geschmiert hatte. Sie hat so ein wundervolles Lachen. Und ihr Papa ist so stolz, ich bin so verdammt stolz auf unser Mädchen. Hände greifen unter meine Arme und helfen mir beim Aufstehen, ich muss irgendwie auf dem Boden gelandet sein. Mein Gesicht ist tränennass. Das hier ist nicht meine Aufführung. Das sollte die Aufführung meiner Tochter sein, was mache ich hier?

„Hörst du mich, Mama? Ich brauche dich so sehr. Bitte wach auf, bitte, bitte wach auf.“ Das ist sie! Das war Paulina! Aber sie ist so weit weg, warum ist sie so weit weg? Ich muss doch zu ihr. Ich muss sie doch ganz fest an mich drücken und sagen, dass ich hier bin. Dass ich immer bei ihr bin. Und wie stolz ich auf sie bin. Ich stelle mir vor, wie ich mein Mädchen in den Armen halte und ihr über ihre Haare streichle, wie ich ihr einen Kuss auf den Haaransatz gebe und ihr sage, wie leid es mir tut. Ich stelle mir vor, wie sie lächelt. Wie sie ein letztes Mal für mich lächelt. Dieses Lächeln hat sie definitiv von ihrem Papa. Ich höre wieder das Piepen. Dieses Mal ist es lauter und länger. Es ist allumfassend, es nimmt mich ein. Und dann höre ich nichts mehr.