Lífið – Leben

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grief

a short story by Anaëlle-Sophie Hagen

Wir waren jung, neugierig und mutig, aber blutige Anfänger*innen. Du warst impulsiv. Du warst schlau. Du lerntest schnell und hast genauso schnell wieder vergessen, zumindest tatest du so. Du warst getrieben von deinen Trieben und zugleich konnte ich durch deine Augen in dein Herz sehen. Und in meins. Im Winter wurdest du weich. Rot, fuchsrot, feuerrot. Meine Hand verschwindet auf deinem Rücken.
Weiße Strähnen umtanzen deine schwarzen Füße. Beige Linien umrahmen deine mandelförmigen Augen. Wie so vieles, teilst du das mit deiner Schwester, Mandla, deine übriggebliebene DNA. Sie ist eine Anführerin, du ein Mitläufer und doch weißt du genau, was du willst. Und dabei bist du so schön. So schön. Und so unberechenbar. Du unterscheidest dich von deiner Familie und doch verschlägt mir ihr Anblick den Atem. Dann sehe ich dich, in deiner divenhaften Tante, deinem ungestümen Neffen, deiner tollkühnen Schwester. Trete ich näher, verschwindest du. Du bist es nicht. Entfernter als jedes Himmelsbild.
Gemeinsam waren wir im Wald, auf den Pfaden und im Gehölz. Auf den Feldern, entlang der Treckerspuren und zwischen den Ähren. Du hieltest nicht viel von vorgefertigten Strecken. Dein Weg war stets dein eigener, auch wenn du dich dabei meist selbst überrascht hast. Wenn du wolltest, konntest du scheinen. Du konntest strahlen, alle Blicke auf dich ziehen. Dann warst du bei mir. Wir wurden eins. Voll und ganz. Jeden Schritt hast du mit Bedacht gesetzt. Jeden Schritt konnte ich mit Bedacht setzen. Du hast mich fester an dich gezogen. Aus einem Takt, wurde ein Fluss, wurde ein Rhythmus, den es nicht zu imitieren gab, den es nicht zu imitieren gibt. Er ist da oder nicht. Du bist da oder nicht. Du warst da, oder nicht? Und wenn du nicht wolltest, warst du bei den Sternen, bei den Wölfen, bei deiner Mutter, nur nicht bei mir, bei deinen Instinkten, in deinen Beinen. Schnell. Dahin. Blitz, aber nicht artig. Dann ließ ich dich sein. Du kamst zu mir zurück.
Ich liebe dich. Ich liebe dich immer. 
Im Frühling erwachte in dir ein Feuer, ein Feuer der Natur, du warst getrieben, als würden dich deine Urväter rufen. Im Sommer wurdest du zum Kind, hattest du zwar Angst vor Pfützen, konntest du doch stundenlang im Fluss herumstolzieren. Dabei warst du stark. Die Nässe brachte deine kräftige Brust zum Vorschein. Im Spätsommer wurdest du ruhig, wir machten Spaziergänge, bevor Wind und Frost deine wilden Geister wieder zum Leben erweckten. Im Winter warst du eine Samtkugel, feurig trotztest du Schnee und Eis.
Wir konnten spielen, du warst so verspielt. Fast alles war für dich ein Spiel, bis zu deiner letzten Minute. Ich lief los, du auf meinen Versen. Wagtest nicht, mir einen Schritt voraus zu sein, doch abhängen ließest du dich nie. Ehrgeizig warst du. Hielt ich abrupt an, tatest du es mir gleich. Du konntest stehen wie ein Soldat, zuhören wie ein Soldat, gehen wie ein Soldat. Viertakt. Zweitakt. Mein Schritt war dein Schritt. Du hast mich beobachtet, nachgeahmt, von mir gelernt. Oder war es andersherum? Ich weiß es nicht mehr. Ich vermisse dich.
Ohne Zweifel, es war nicht immer leicht. Du hattest deinen Kopf, ich hatte meinen. Du hattest gesundheitliche, psychische Probleme, Verletzungen. Ich auch. Waren wir uns selbst manchmal zu viel, waren wir doch das Einzige füreinander. Du warst mein Trost, meine Hoffnung, meine Liebe, mein Freund, meine Erlösung. Du bist mein Freund. Und erlöst auch.
Du bist Natur. Du lebst, du stirbst, du kommst, du gehst, du bist, du bist nicht, du liegst, du schwebst. Das Gras sieht anders aus, da, wo du gelegen hast, bevor du gingst. Ich sehe deinen Abdruck im Tau. Du warst schnell, schneller als der Wind, schneller als du selbst, bis zum Ende. Auch dein Abschied. Hast mich mal wieder überrascht.
Mein Ohr an deinem bebenden Bauch. Meine Nase in deinem warmen Fell. Nichts riecht wie du. Nichts ist so beruhigend wie du. Nichts nehme ich auf wie dich. Du hast mich gefunden. Ich brauchte dich. Du brauchtest mich. Engel gehen, wenn ihre Aufgaben erfüllt sind, du Engel aus dem Teufelsmoor.