„Hurra, die Schule brennt!“ (oder: Ein ganz normaler Tag in der Grundschule)

a short story by García Kaletta

Die Namen der Schüler*innen und Lehrkräfte sind fiktiv.

Es ist Mittwochvormittag und Religion in der G2 steht auf dem Plan. Zwei Stunden Mathe in der G3 und G4 sind schon hinter mir und ich bin bereits ziemlich geschafft. Schleppe seit einigen Tagen eine nette kleine Erkältung umher und die Halsschmerzen machen meiner Stimme zu schaffen. Aber das Selbstmitleid muss warten. Betrete den Klassenraum und werde von schreienden Kindern begrüßt, es herrscht Chaos. Irgendwie habe ich plötzlich nicht mehr so Lust auf die Stunde. Überlege zu gehen, doch irgendwas hält mich ab. Ach richtig. Bin ja der Lehrer. Mist. Dann sieht mich das erste Kind. Ein ohrenbetäubendes „Herr Kaletta ist daaaaaaa!“ besiegelt mein Schicksal. Kein Zurück also.

Cassandra hat Geburtstag, wie sie mir stolz erzählt. Wobei sie es mir eigentlich eher ins Ohr schreit, während sie vor mir auf und ab hüpft. Der Rest der Klasse ist total aufgeregt, ist ja klar, Cassandra hat ja auch Süßigkeiten zum Verteilen mitgebracht. Für diesen einen Tag ist sie also das beliebteste Mädchen der Klasse. So einfach ist das Leben auch nur in der Grundschule. Leider hat sie bereits mit dem Verteilen angefangen. Wobei Verteilen das Durcheinander nicht ganz trifft, was sich vor mir abspielt. Sie hat zwei ihrer drei Tüten an ihrem Platz geöffnet, weshalb sich eine gewisse Meute um sie gebildet hat. Es kommt, wie es kommen muss: Die beiden Tüten sind leer, vereinzelte Kinder haben die Hände voll mit Bonbons, der Großteil hat noch gar nichts. Jerome hat so viele ergattert, dass ich besorgt überlege, ob ich für neu entstehende Diabeteserkrankungen rechtlich belangt werden kann. Unruhe kommt in der Klasse auf und die ersten Kinder werden nervös. Ob da wohl noch genug für sie übrig bleibt? Jannik und Lisa haben noch nichts und fühlen sich ungerecht behandelt, wie sie mich lautstark wissen lassen. Na dann, räuspern, Stimme erheben, Stimme bricht, ach ja, die Halsschmerzen, nochmal räuspern, Stimme erheben, ich muss den Mob auflösen. Irgendwie gelingt es mir. Ich bitte Cassandra beim nächsten Mal doch bitte rumzugehen beim Verteilen, damit auch alle etwas bekommen. Na ja, zum Glück hat sie ja noch eine Tüte für den Rest. Erste Katastrophe abgewendet.

Würde jetzt gerne loslegen mit dem Stoff. Aber huch, was ist das? Ein neues Gesicht in der Klasse. Na toll. Kann mir jetzt schon nicht die ganzen Namen der kleinen Racker merken, da brauch ich nicht noch Zuwachs. Hilft aber nichts, dann wohl mal die neue Schülerin begrüßen, das Mädchen hat ihre Stofftierkatze dabei. Shana heißt sie, so sagt sie, also nicht das Stofftier, sondern das Mädchen, aber vielleicht auch nicht, vielleicht heißen sie auch beide so, oder vielleicht auch keine, sondern das Mädchen neben ihr. Kann dem Redeschwall nur begrenzt folgen, muss nebenbei nämlich noch Jan-Malte davon abhalten, sich beim Kippeln mit dem Stuhl das Genick zu brechen. Weise Jan-Malte zurecht und dreh mich wieder zu Shana, die währenddessen unbekümmert weitergesprochen hatte. Na ja, immerhin ist sie nicht auf den Mund gefallen. Nettes Kind.

Jetzt aber mal loslegen. Ich erkläre den Arbeitsauftrag, wiederhole ihn sicherheitshalber, dann noch ein drittes Mal, nochmal in langsam und dann ein letztes Mal für die ganz großen Spezialisten. Die Kinder fangen an zu arbeiten, wie schön. Ein Junge mit kurzen blonden Haaren kommt nach vorne. Jackson heißt er, wenn mich nicht alles täuscht: „Herr Kalettaaaaaa…?“ Ich schaue ihn lange an und bereite mich mental auf eine Frage zum Arbeitsauftrag vor: „Jaaaaa….?“ Ich freue mich richtig, als er nur erklärt, dass ihm schlecht sei und er abgeholt werden will. Ärgere mich, dass diese Idee nicht mir gekommen ist. Schicke ihn zum Sekretariat und einen Jungen namens Elias gleichmal als Unterstützung mit, zack, der Lärmpegel fällt um wichtige, hörschädigende Dezibel. Wie angenehm. Überlege Sabine, Markus und Mira gleich mitzuschicken. Ein schöner Gedanke. Dann meldet sich Jerome, er hat Bauchschmerzen. Ich versuche gar nicht erst die leeren Bonbonverpackungen auf seinem Tisch zu zählen. Schlage ihm vor, doch einfach noch einen zu essen, um den Magen zu beruhigen. Er sieht nicht überzeugt aus, erwägt die Option jedoch, ich kann es in seinen Augen sehen. Nehme ihm sicherheitshalber die verbleibenden Bonbons weg.

Jackson und Elias befinden sich schon wieder in der Klasse. Die waren doch gerade erst runtergelaufen…? Hmm. Versuche, sie zu ignorieren. Vielleicht verschwinden sie dann ja einfach von alleine. Nein, schon stehen sie an meinem Pult: „Herr Kalettaaaa…?“ „Jaaaaa….?“ „Die Türen des Foyers sind zu, man kommt da nicht rein. Außerdem ist da ganz viel Rauch im Foyer.“ Rauch? Das klingt nicht gut. Obwohl da waren doch vorhin noch Handwerker zugange. Wird also wohl vom Bohren sein oder so. Nichts, worüber ich mir Gedanken machen muss, denke ich mir. Dann geht der Feueralarm los. Innerlich läuft eine Träne über meine Wange. Rein gar nichts, worüber ich mir Gedanken machen mu… Shit. Jackson ruft: „Cool, Feueralarm, bei uns brennt’s!“ Sage ihm, er soll die Klappe halten.

Mira und Sabine geben gleich ihr Bestes, mit dem ohrenbetäubenden, schrillen Heulen der Sirene mitzuhalten. Mia lässt sich davon anstecken. 20 Sekunden Feueralarm, bereits drei weinende Kinder. Bin begeistert. „Keine Panik!“, hör ich mich rufen. Ob zu den Kindern oder zu mir weiß ich selbst nicht so genau. Fordere die Kinder auf, sich in Ruhe in einer Reihe aufzustellen, während ich versuche, sie zu überzeugen, dass das nur eine Übung ist. Die Handwerker haben wohl einfach ein bisschen Rauch beim Bohren verursacht. Das scheint halbwegs zu wirken. Schaue in den Flur, die dritten und vierten Klassen sind schon weg. Es ist meine zweite Woche an der Schule, von einem Feuerprotokoll habe ich nicht den Hauch einer Ahnung. Verfluche meine Unwissenheit. Wer, wie und vor allem wohin? Egal, erstmal raus. Sehe Frau Maser ihre erste Klasse rausführen, also nichts wie hinterher. Die wird schon wissen, wo’s hingehen soll. Also die Treppen runter, am Foyer vorbei, welches abgeriegelt und komplett voller Rauch ist. Riecht zudem auch ziemlich verbrannt. Hoppala. So viel zum Thema Übung. Draußen auf dem Platz kontrolliere ich die Anwesenheit. Gut, dass ich das Klassenbuch mitgenommen hab. An meinen Laptop habe ich wiederum nicht gedacht. Man soll ja schließlich nichts mitnehmen, wie ich den Kindern vor wenigen Minuten noch erklärt hatte. Die sich nun in der rauchenden Schule befindenden ungesicherten drei Semester Uniarbeit lösen allerdings etwas Unbehagen bei mir aus. Wann war nochmal das letzte Back-up? Mir wird schlecht. Ich rufe das letzte Kind auf und mir fällt ein Stein vom Herzen, als alle Kinder da sind. Frau Maser fragt mich, ob ich wissen würde, wo wir jetzt mit den Klassen hingehen sollen. Wie bitte? Ich? „Na ja“, sagt sie, sie wäre ja auch erst seit ein paar Wochen an der Schule. Na, ausgezeichnet. So viel dazu.

Die Zahl der weinenden Kinder hat sich mittlerweile trotz vieler Tröstungsversuche auf fünf erhöht. Einigen Kindern ist eingefallen, dass sie ja Geschwister in den anderen Klassen haben. Die Angst verbreitet sich, dass es irgendwer nicht rausgeschafft haben könnte. Mira weint und sagt, sie will jetzt nach Hause. Ich weiß genau, wie sie sich fühlt. Bei Shana fließen die Tränen jetzt auch in Strömen. Selbst die Stofftierkatze sieht traurig aus. Ein schöner erster Schultag. Drei weitere Mädchen weinen aus Solidarität gleich mal mit. Immerhin, Klassengemeinschaft wird in der G2 ganz großgeschrieben.

Mein hilfloser Blick trifft den von Maria, die an der Schule ebenfalls als Studentin arbeitet, ich mit drei weinenden Kindern in den Armen, sie mit zweien. Überlege, ob diese ungewollte Situation vielleicht sogar doch was Gutes am Ende hat. Finde, ich gebe grade einen ganz passablen Familien-Papa ab. Dann kommt jedoch das vierte Kind mit Tränen in den Augen an und will getröstet werden. Verwerfe die Papa-Bewerbung also schnell wieder, sind außerdem auch noch zu nah an der Schule dran. Laufen mit den Kindern in Richtung Gemeinschaftsschule, wo einige achte und neunte Klassen stehen, die natürlich total entspannt, mustern mich eindringlich, als ich mit meiner Horde weinender und aufgedrehter Kinder an ihnen vorbeigehe. Lehrer des Jahres, klarer Fall. Drei Neuntklässlerinnen kommen rüber, um mir einige weinende Kinder abzunehmen und beim Trösten zu helfen. Sehr freundlich. Erlaube mir kurz durchzuatmen. Dann ruft Jackson: „Schaut mal, da kommt Rauch oben aus der Schule raus!“ Sabine, die ich grade erfolgreich beruhigt hatte, bricht wieder in Tränen aus. Ja, vielen Dank auch Jackson. Sage ihm, er soll die Klappe halten. Von seinen ‘mir ist ganz schlecht, ich muss abgeholt werden und nach Hause – Symptomen’ ist nicht mehr viel zu sehen, die Augen leuchten, als wären Weihnachten und Ostern auf diesen Tag gefallen.

Auf einmal steht Theo weinend vor mir. Das ist neu. Bis jetzt wirkte er ziemlich gefasst mit der ganzen Situation. Er klagt jedoch, dass sein Bein wehtut, er hat es sich wohl gestoßen. Verspreche ihm, dass der Schmerz gleich aufhören wird. Nach einigen Minuten seines schmerzerfüllten Schluchzens bin ich nicht mehr so sicher. Er auch nicht, wie er mir tränenüberlaufen klarmachen will. Rufe Maria und bitte sie auf meine zweite Klasse aufzupassen. Schnappe mir Theo und bringe ihn ins Trockene der Fahrradständer. Schuhe aus, Hose hochgekrempelt, ein lauter Schrei. Bein ist komplett dick und blau angeschwollen. Wie hat er das denn geschafft? Bin endgültig überfordert. Zu Hause anrufen wird ohne Sekretariat schwierig. Einen Krankenwagen will ich aber auch nicht rufen, dafür sieht es dann doch nicht drastisch genug aus. Die Rettung kommt in Form einer Schulbegleitung, die die Nummer eines Familienangehörigen auf dem Handy hat, welcher Theo abholen kommt. Auch mal Glück haben.

Die Direktorin der Gemeinschaftsschule kommt rüber und informiert uns, dass wir am falschen Treffpunkt stehen. Zeige mich wenig überrascht. Zwei Löschfahrzeuge der Feuerwehr fahren aufs Schulgelände und fangen an, ihre Schläuche an die Hydranten anzuschließen. Maxi freut sich, er kann seinen Vater sehen, der ist nämlich bei der Freiwilligen Feuerwehr, wie er seinen Mitschülern stolz erzählt. Finde es immer schwieriger, die Kinder von der ganzen Übungsgeschichte zu überzeugen. Die ersten Feuerwehrmänner gehen in das mittlerweile ziemlich dunkel qualmende Gebäude. So auch der Vater von Maxi. Maxi sieht auf einmal nicht mehr so glücklich aus. Jackson beschließt, ihn zu beruhigen: „Boa, die gehen in das brennende Gebäude, das ist voll gefährlich, hoffentlich sterben die nicht!“ Sage ihm, er soll die Klappe halten. Maxi sieht jetzt definitiv nicht mehr glücklich aus.

Dürfen jetzt in die Gemeinschaftsschule, damit wir nicht mehr in der Kälte stehen müssen. Will mit den Kindern Galgenmännchen spielen, das ist immer eine sichere Bank. Der Klassenraum hat keine Kreide mehr. Natürlich nicht. Mein Kopf rattert, Klasse beruhigen, Klasse ablenken und beschäftigt halten, was gibt’s noch? Musik sollte funktionieren, fange an den Kindern einen Rhythmus vorzuklatschen. Das klingt zwar nur so einigermaßen gut, was vor allem daran liegt, dass ich in meiner Aufregung selbst ständig den Faden verliere und total durcheinander trommele und klatsche. Dafür beruhigen sich die Kinder immerhin und schenken mir ihre volle Aufmerksamkeit. Grade, als wir uns einem einigermaßen flüssigen Takt nähern, kommt die Direktorin herein und erklärt, dass wir wieder in unsere Grundschule dürfen. Bringe die Kinder wieder in die Klasse und lobe sie dafür, dass sie sich so vorbildlich verhalten und die Anweisungen befolgt haben. Immerhin haben sich jetzt alle wieder beruhigt. Jackson meldet sich: „Herr Kalettaaaaa…?“ Ich weiß bereits, dass ich es bereuen werde: „Jaaaaa…?“„Kann es ab jetzt jede Woche bei uns brennen?“ Ich kann förmlich spüren, wie Sabine bei dem Gedanken die Tränen wieder aufsteigen. Sage ihm, dass er das mit der Schulleitung abklären soll. Ich wäre jetzt bereit, in Rente zu gehen.

Author’s note

Warum man Grundschullehrer*in werden könnte:

In einer Welt, in der die Missstände kaum noch zählbar sind, die Frage nicht lautet „ob“ schlechte Nachrichten, sondern nur noch „wo“ und „wie viele“, kann die Grundschule nicht nur für die Schüler*innen einen willkommenen Ort der Zuflucht darstellen.

Als Lehrkraft hat es etwas Faszinierendes, in diese Lebenswelt einzutauchen, die zumindest teilweise noch nach einfacheren Regeln funktioniert. Zu den größten Sorgen gehört die Frage, ob der Thomas auch morgen noch mit dem Jakob befreundet ist, ob Marlene in der nächsten Pause wieder mit der Luna spielt und der Streit um das Fußballtor die größte Krise seit der letzten Neuverteilung der Sitzordnung darstellt.

Dabei sind die Probleme und Belange der jüngeren Individuen in keiner Weise unbedeutend, noch sind die Sorgen auch nur ansatzweise auf die genannten oberflächlichen Konflikte begrenzt. Trotzdem ist der Schulalltag meist folgendes: positiv, ehrlich und auch wenn es vielleicht nur so wirkt, simpler. Nicht immer, nicht alles und nicht für jeden. Aber zum Glück noch häufig. Die Arbeit bringt unerwartete Interaktionen und Situationen, die nur das Leben schreiben kann und unüberlegte Aussagen, die noch Wochen später zum Nachdenken oder Schmunzeln verleiten. Die Routine bleibt gleich und doch ist jeder Tag anders.

Zwar ist nicht immer alles Sonnenschein, aber man lernt auch mit den Gewitterwolken umzugehen. Auf eine Sache ist jedenfalls immer Verlass: Grundschulkinder tun alles dafür, nie Langeweile aufkommen zu lassen. Und das ist einfach immer wieder schön.

Und anstrengend.

Vor allem anstrengend.

Werdet nicht Grundschullehrkräfte.