Kein Ende in Sicht

Content warning. May contain spoilers.

blood

 

an extract from the same novel by Jeremias Winckler

51.524453 Nord, 100.073991 Ost, Mongolei, 8.9.2017

Durch die einen Spalt breit geöffnete Zeltplane scheinen mir die ersten Sonnenstrahlen des Tages entgegen. Sie vertreiben die morgendliche Frische wie der Frühling den Winter. Unzählige wässrige Kügelchen, die sich an den Spitzen der Grashalme festhalten, rollen wie funkelnde Perlen daran hinunter. Es ist ein Spektakel der Natur und ich bin der einzige Zuschauer.

Ich reibe mir den Schlaf aus dem Gesicht. Die Rauheit meiner Hände kratzt an der feinen Haut der Augenlider. Mein Nacken ist steif. Wegen der Wurzeln und Steine, die unter dem Zelt liegen, habe ich in einer unnatürlichen Position geschlafen. Unter den Fingernägeln, an den Füßen und in meinen Haaren, überall hat sich Dreck angesammelt. Obwohl ich es selbst kaum noch rieche, umgibt mich der Geruch tierischer Verwilderung. Meine Klamotten sind durchgeschwitzt. Nur meine Unterwäsche wasche ich in den Bergbächen entlang des Weges. Mich plagt der Hunger, doch ich unterlasse es, nach Essen in der Satteltasche zu suchen. Vor zwei Tagen habe ich das letzte Stück Brot verzehrt und die Überbleibsel der Karotten abgenagt. Mein Proviant ist erschöpft. Ich stehe auf. Mir wird schwarz vor Augen und ich breite die Arme aus, um nicht zu stürzen. Seit gestern verspüre ich gelegentlich einen Anflug von Schwindel. So stehe ich da, schwankend, stinkend, hungrig und trotzdem auf eine sonderbare Art glücklich.

Es ist Zeit, das Lager abzubauen. Alles packe ich ordentlich zusammen. Die Gegenstände und Klamotten, die ich erst zum Abend wieder brauche, werden zuerst verstaut. Das Messer und mein Kompass klappern in der Hosentasche. Ghostbuster zupft an einzelnen Grashalmen. Ich nähere mich ihm. Er hebt den Kopf. Seine tiefschwarzen Augen folgen meinem Gang. Ich löse den Knoten, mit dem ich ihn an einen Baum gebunden habe. Da Ghostbuster von eher stürmischer Natur ist und sich leicht in Rage versetzen lässt, mache ich mich auf Gegenwehr gefasst. Ich ziehe den Hengst mit einem Ruck zu mir heran. Ohne den Kopf zur Seite zu reißen, wie er es die letzten Tage versucht hat, gehorcht er mir. Ich schmeiße die dicken Filzdecken über seinen Rücken. Der Sattel folgt. Inzwischen halte ich die Leine nur noch lose in der Hand. Er steht wie angewurzelt. Ich bücke mich und atme tief ein, greife entschlossen unter dem Bauch des Tieres hindurch, schnappe mir die auf der anderen Seite herunterhängenden Lederriemen und ziehe sie durch die metallenen Schnallen. Die Unberechenbarkeit tierischen Eigensinns bereitet mir immer noch einen ungemeinen Respekt. Was wäre, wenn mein Pferd sich erschreckt? Würde es sich aufbäumen und mich zur Seite schmeißen? Ich könnte unter die Hufe geraten. Ich ziehe die Riemen fest, Ghostbuster stöhnt auf, ein lang gezogener Furz entfährt ihm. Ich befestige die Satteltaschen und das Zelt auf seinem Rücken. Danach drücke ich Ghostbuster das Mundstück ins Maul. Alles ist bereit.

Ich schwinge mich mit einer fließenden Bewegung auf ihn und rufe: „Cho!“ Ohne zurückzuschauen, reite ich los. Unter den Hufen brechen Sträucher und Äste. Der Wind bläst mir durch das Haar. An den Waden spüre ich das rhythmische Pochen meines Begleiters Herz. Seine Muskeln spannen sich im Takt und mit jedem Steigen hebt sich mein Körper und landet im nächsten Moment sanft auf dem sich senkenden Sattel. Die frische Morgenluft durchdringt mich, als wäre ich ein Teil von ihr. Ich fliege durch die Ausläufer des Waldes, getragen von Gezwitscher und meinem trommelnden Puls. Ghostbuster will nach links und nach rechts ausbrechen, doch mit sicherer Hand halte ich uns auf Kurs. Ich visiere die noch schneebedeckten Kuppen Russlands an. Die Grenze liegt nördlich vom Kovsgol-See. Seit Wochen reise ich immer weiter in Richtung Norden. In nur wenigen Tagen werde ich die russische Grenze sehen.

Aus der Böschung trabend, dem Geäst entweichend, öffnet sich vor mir eine weite Steppe. Das satte Grün der Wiesen und der Geruch von Wildblüten entlocken mir ein Lächeln, das sogleich zu einem Lachen wird. Wie eine gigantische Schlange windet sich ein reißender Bach durch die Mitte der offenen Fläche. Die Wellen tänzeln in weißen Gewändern zwischen den Steinen. Wir nähern uns dem Wasser, Ghostbuster senkt den Kopf und trinkt. Ich steige ab und fülle meine Wasserflasche. Eine Herde Wildpferde hat auf der anderen Seite Rast gemacht. Auch sie trinken. Einige Fohlen tapsen unbeholfen im Bach herum. Nachdem Ghostbuster seinen dringlichsten Durst gestillt hat, wird er auf die freien Pferde aufmerksam. Er wiehert und reckt den Kopf. Ich will ihm und mir die Freude der Herdengemeinschaft nicht verweigern und drücke meine Hacken in die Flanken des Hengstes, um den Fluss zu durchqueren.

Unter den Hufen wackeln die Steine und die Strömung reißt an den Beinen meines Gefährten, doch wir leisten Widerstand. Mit sicheren Schritten, als wüsste er um die Beschaffenheit des Untergrundes, durchwatet er das Gewässer. Die Herde hat uns nicht aus den Augen gelassen und ist vom Fluss zurückgewichen. Ihr Wiehern hallt von den Felshängen wider. Die Neugier steigt in mir auf und ich will ihr Raum verschaffen. Wir nähern uns der Herde. Das Wiehern wird lauter und Ghostbuster reißt an den Zügeln. Ich muss ihn mit aller Kraft zurückhalten, damit er nicht vorschnellt. Ich wende mich zur Seite, betrachte eines der Fohlen, da entgleiten mir die Zügel. Mir rutscht das Herz in die Hose. Von Freiheit und Freude erfüllt, schießt Ghostbuster vorwärts. Ich klammere mich an den Eisenbügel des Sattels. Mein Körper holpert auf und ab. Ich finde den Rhythmus des Tieres nicht. Verzweifelt drücke ich meine Waden gegen die Flanken. Von der Hektik aufgescheucht, setzt sich die Herde in Bewegung. Wir hetzen auf den Wald zu. Die Äste schlagen mir ins Gesicht. Ich schmecke Blut. Das muss ein Ende haben!

An der Seite hängen die Zügel hinunter. Wir werden immer schneller. Die Kiefernnadeln peitschen auf mich ein. Ich versuche, nach den Zügeln zu greifen, doch ich kriege sie nicht zu fassen. Mich zur Seite lehnend, komme ich ihnen näher. Mein Körper fliegt auf und ab. Die Oberschenkel schmerzen. Noch ein kleines Stück. Ich beuge mich vorwärts. Ein Zucken. Plötzlich: Schwerelosigkeit. Meine Füße fliegen aus den Steigbügeln. Meine Hände schließen sich um die Zügel und ich halte mich mit Leibeskräften an ihnen fest. Ein Aufprall. Ich kann weder hören noch sehen. Ich werde über den Boden geschleift. Gerade will ich aufgeben, da bleibt die Welt stehen. Stille. Ich atme aus, krieche zu einem neben mir aufragenden Baumstumpf und schlage die Zügel darum. Es pocht in meinen Ohren und alles schmerzt. Ich schaue an mir hinunter. Unter der zerrissenen Hose sehe ich Blut. Ich betaste die Stelle vorsichtig. Für einige Minuten rühre ich mich nicht. Mein Pferd schaut sehnsüchtig der zwischen den Bäumen verschwindenden Herde nach.

Unter normalen Umständen hätte ich eine Pause gemacht und mein Lager an Ort und Stelle aufgeschlagen, aber mir fehlt es an Proviant. Ich weiß, dass ich weiter muss. Die nächsten Nomaden können nicht mehr weit sein. Sobald wir den Wald verlassen, werden wir welche finden. Wir müssen welche finden. Irgendwen. Von diesem Gedanken angespornt, stehe ich auf und ziehe Ghostbuster zu mir heran. Ich rücke die Satteltaschen zurecht, straffe den Gurt und steige auf. Jeder Meter des Weges schmerzt. Die schweißnassen Klamotten reiben an meiner wunden Haut. Mein Körper ist mit Blutblasen und Schürfwunden überzogen. Ich kann nicht mehr. Ich bin erschöpft. Aber ich muss weiter, solange ich noch die Kraft habe, mich im Sattel zu halten.

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