Kälte und Einsamkeit

an extract from the same novel by Jeremias Winckler

Südlich vom Munku Sardyk, Mongolei, 9.9.2017

Im schwachen Licht der Sterne sehe ich die enormen Weiten der Steppe. Wäre mir nicht so kalt, würde ich mich am liebsten auf die Wiese legen, um mich in der Unendlichkeit des Universums zu verlieren. Doch ans Faulenzen ist nicht zu denken. Ich muss mich um Wasser kümmern. Das sanfte Rauschen eines Baches durchbricht die Stille der Nacht. Ich kann die Entfernung nur schwer einschätzen, denn die Finsternis verschlingt Farben und Konturen der Umgebung. Ich folge dem wohlvertrauten plätschernden Geräusch. Bald erreiche ich den Bach. Ich tauche meine Flasche unter Wasser. Meine Hände sind wie betäubt. Sobald das Gefäß halb voll ist, nehme ich ein paar gierige Schlucke zu mir. Das Wasser benetzt meine Lippen und kühlt meinen spröden und kaputten Mund. Ich mache mich auf den Rückweg zum Lager.

Um mich vor der Kälte zu schützen, ziehe ich jeden Abend einen Großteil der Klamotten an. Genauer gesagt: zwei Sets Skiunterwäsche, zwei Paar Socken, vier T-Shirts, drei Pullis und zwei Hosen. Dann lege ich mich in den Schlafsack und decke mich mit den Jacken zu. Es hilft alles nichts, die Kälte kriecht ins Zelt und arbeitet sich Schicht für Schicht zu mir durch. Ich schließe den Zelteingang und stülpe mir die Kapuze des Schlafsacks über den Kopf. Meine Hände und Füße spüre ich kaum noch, und immer wieder überkommen mich Zitteranfälle. Die Nacht schreitet voran. Der Bach plätschert. Mein Pferd trottet schnaubend umher. Und ich reibe die Hände aneinander und versuche, mich ganz tief in den Schlafsack zu verkriechen. Schließlich, nach mehreren Stunden der Kälte, gleite ich in einen unruhigen Schlaf.

Ich erwache zitternd. Der Reißverschluss des Schlafsackes hat sich in der Nacht ein wenig geöffnet. Ich will ihn schließen, aber meine Finger sind taub und ich kriege den Zipper nicht zu fassen. Um besser sehen zu können, krame ich nach der Kopflampe. Licht flutet das Innere des Zeltes. Ich erschrecke furchtbar: Meine Hände sind blau. Ich halte sie unter meine Achseln. Das Gefühl will nicht zurückkehren. Angst überfällt mich. Wie viel Kälte kann ich ertragen? Alles verschlingende Einsamkeit überkommt mich. Wie schön es wäre, einen vertrauten Körper an der Seite zu haben, die Wärme des anderen zu reflektieren. Ich mache mich klein, presse die Hände an den Körper und atme in den Schlafsack. Jetzt nur nicht einschlafen. Die restlichen Stunden der Nacht sind pures Elend. Nach einer gefühlten Ewigkeit spüre ich, wie die Durchblutung in den Händen wieder einsetzt. Ein stechender, pulsierender Schmerz. Meine Finger schwellen auf die doppelte Dicke an. Es tut so weh. Ich beiße die Zähne aufeinander und heule in mein Kissen.

Die Sonne ist noch nicht ganz am Horizont erschienen, als ich das Zelt verlasse, um mich auf den Tag vorzubereiten. Eine dünne Eisschicht bedeckt die Pfütze am Zelteingang, und die Wiesen sind mit Morgentau überzogen, in dessen kristallener Oberfläche sich die ersten Sonnenstrahlen widerspiegeln. Im schwachen Morgenlicht scheinen mir die sich verziehenden Nebelschwaden wie Geister, die dem anbrechenden Tag entfliehen. Erst nach Erlöschen der letzten Strahlen werden sie wieder ihr Unwesen treiben. Es sind meine Geister und sie machen mir Angst.

Kein Ende in Sicht

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blood

 

an extract from the same novel by Jeremias Winckler

51.524453 Nord, 100.073991 Ost, Mongolei, 8.9.2017

Durch die einen Spalt breit geöffnete Zeltplane scheinen mir die ersten Sonnenstrahlen des Tages entgegen. Sie vertreiben die morgendliche Frische wie der Frühling den Winter. Unzählige wässrige Kügelchen, die sich an den Spitzen der Grashalme festhalten, rollen wie funkelnde Perlen daran hinunter. Es ist ein Spektakel der Natur und ich bin der einzige Zuschauer.

Ich reibe mir den Schlaf aus dem Gesicht. Die Rauheit meiner Hände kratzt an der feinen Haut der Augenlider. Mein Nacken ist steif. Wegen der Wurzeln und Steine, die unter dem Zelt liegen, habe ich in einer unnatürlichen Position geschlafen. Unter den Fingernägeln, an den Füßen und in meinen Haaren, überall hat sich Dreck angesammelt. Obwohl ich es selbst kaum noch rieche, umgibt mich der Geruch tierischer Verwilderung. Meine Klamotten sind durchgeschwitzt. Nur meine Unterwäsche wasche ich in den Bergbächen entlang des Weges. Mich plagt der Hunger, doch ich unterlasse es, nach Essen in der Satteltasche zu suchen. Vor zwei Tagen habe ich das letzte Stück Brot verzehrt und die Überbleibsel der Karotten abgenagt. Mein Proviant ist erschöpft. Ich stehe auf. Mir wird schwarz vor Augen und ich breite die Arme aus, um nicht zu stürzen. Seit gestern verspüre ich gelegentlich einen Anflug von Schwindel. So stehe ich da, schwankend, stinkend, hungrig und trotzdem auf eine sonderbare Art glücklich.

Es ist Zeit, das Lager abzubauen. Alles packe ich ordentlich zusammen. Die Gegenstände und Klamotten, die ich erst zum Abend wieder brauche, werden zuerst verstaut. Das Messer und mein Kompass klappern in der Hosentasche. Ghostbuster zupft an einzelnen Grashalmen. Ich nähere mich ihm. Er hebt den Kopf. Seine tiefschwarzen Augen folgen meinem Gang. Ich löse den Knoten, mit dem ich ihn an einen Baum gebunden habe. Da Ghostbuster von eher stürmischer Natur ist und sich leicht in Rage versetzen lässt, mache ich mich auf Gegenwehr gefasst. Ich ziehe den Hengst mit einem Ruck zu mir heran. Ohne den Kopf zur Seite zu reißen, wie er es die letzten Tage versucht hat, gehorcht er mir. Ich schmeiße die dicken Filzdecken über seinen Rücken. Der Sattel folgt. Inzwischen halte ich die Leine nur noch lose in der Hand. Er steht wie angewurzelt. Ich bücke mich und atme tief ein, greife entschlossen unter dem Bauch des Tieres hindurch, schnappe mir die auf der anderen Seite herunterhängenden Lederriemen und ziehe sie durch die metallenen Schnallen. Die Unberechenbarkeit tierischen Eigensinns bereitet mir immer noch einen ungemeinen Respekt. Was wäre, wenn mein Pferd sich erschreckt? Würde es sich aufbäumen und mich zur Seite schmeißen? Ich könnte unter die Hufe geraten. Ich ziehe die Riemen fest, Ghostbuster stöhnt auf, ein lang gezogener Furz entfährt ihm. Ich befestige die Satteltaschen und das Zelt auf seinem Rücken. Danach drücke ich Ghostbuster das Mundstück ins Maul. Alles ist bereit.

Ich schwinge mich mit einer fließenden Bewegung auf ihn und rufe: „Cho!“ Ohne zurückzuschauen, reite ich los. Unter den Hufen brechen Sträucher und Äste. Der Wind bläst mir durch das Haar. An den Waden spüre ich das rhythmische Pochen meines Begleiters Herz. Seine Muskeln spannen sich im Takt und mit jedem Steigen hebt sich mein Körper und landet im nächsten Moment sanft auf dem sich senkenden Sattel. Die frische Morgenluft durchdringt mich, als wäre ich ein Teil von ihr. Ich fliege durch die Ausläufer des Waldes, getragen von Gezwitscher und meinem trommelnden Puls. Ghostbuster will nach links und nach rechts ausbrechen, doch mit sicherer Hand halte ich uns auf Kurs. Ich visiere die noch schneebedeckten Kuppen Russlands an. Die Grenze liegt nördlich vom Kovsgol-See. Seit Wochen reise ich immer weiter in Richtung Norden. In nur wenigen Tagen werde ich die russische Grenze sehen.

Aus der Böschung trabend, dem Geäst entweichend, öffnet sich vor mir eine weite Steppe. Das satte Grün der Wiesen und der Geruch von Wildblüten entlocken mir ein Lächeln, das sogleich zu einem Lachen wird. Wie eine gigantische Schlange windet sich ein reißender Bach durch die Mitte der offenen Fläche. Die Wellen tänzeln in weißen Gewändern zwischen den Steinen. Wir nähern uns dem Wasser, Ghostbuster senkt den Kopf und trinkt. Ich steige ab und fülle meine Wasserflasche. Eine Herde Wildpferde hat auf der anderen Seite Rast gemacht. Auch sie trinken. Einige Fohlen tapsen unbeholfen im Bach herum. Nachdem Ghostbuster seinen dringlichsten Durst gestillt hat, wird er auf die freien Pferde aufmerksam. Er wiehert und reckt den Kopf. Ich will ihm und mir die Freude der Herdengemeinschaft nicht verweigern und drücke meine Hacken in die Flanken des Hengstes, um den Fluss zu durchqueren.

Unter den Hufen wackeln die Steine und die Strömung reißt an den Beinen meines Gefährten, doch wir leisten Widerstand. Mit sicheren Schritten, als wüsste er um die Beschaffenheit des Untergrundes, durchwatet er das Gewässer. Die Herde hat uns nicht aus den Augen gelassen und ist vom Fluss zurückgewichen. Ihr Wiehern hallt von den Felshängen wider. Die Neugier steigt in mir auf und ich will ihr Raum verschaffen. Wir nähern uns der Herde. Das Wiehern wird lauter und Ghostbuster reißt an den Zügeln. Ich muss ihn mit aller Kraft zurückhalten, damit er nicht vorschnellt. Ich wende mich zur Seite, betrachte eines der Fohlen, da entgleiten mir die Zügel. Mir rutscht das Herz in die Hose. Von Freiheit und Freude erfüllt, schießt Ghostbuster vorwärts. Ich klammere mich an den Eisenbügel des Sattels. Mein Körper holpert auf und ab. Ich finde den Rhythmus des Tieres nicht. Verzweifelt drücke ich meine Waden gegen die Flanken. Von der Hektik aufgescheucht, setzt sich die Herde in Bewegung. Wir hetzen auf den Wald zu. Die Äste schlagen mir ins Gesicht. Ich schmecke Blut. Das muss ein Ende haben!

An der Seite hängen die Zügel hinunter. Wir werden immer schneller. Die Kiefernnadeln peitschen auf mich ein. Ich versuche, nach den Zügeln zu greifen, doch ich kriege sie nicht zu fassen. Mich zur Seite lehnend, komme ich ihnen näher. Mein Körper fliegt auf und ab. Die Oberschenkel schmerzen. Noch ein kleines Stück. Ich beuge mich vorwärts. Ein Zucken. Plötzlich: Schwerelosigkeit. Meine Füße fliegen aus den Steigbügeln. Meine Hände schließen sich um die Zügel und ich halte mich mit Leibeskräften an ihnen fest. Ein Aufprall. Ich kann weder hören noch sehen. Ich werde über den Boden geschleift. Gerade will ich aufgeben, da bleibt die Welt stehen. Stille. Ich atme aus, krieche zu einem neben mir aufragenden Baumstumpf und schlage die Zügel darum. Es pocht in meinen Ohren und alles schmerzt. Ich schaue an mir hinunter. Unter der zerrissenen Hose sehe ich Blut. Ich betaste die Stelle vorsichtig. Für einige Minuten rühre ich mich nicht. Mein Pferd schaut sehnsüchtig der zwischen den Bäumen verschwindenden Herde nach.

Unter normalen Umständen hätte ich eine Pause gemacht und mein Lager an Ort und Stelle aufgeschlagen, aber mir fehlt es an Proviant. Ich weiß, dass ich weiter muss. Die nächsten Nomaden können nicht mehr weit sein. Sobald wir den Wald verlassen, werden wir welche finden. Wir müssen welche finden. Irgendwen. Von diesem Gedanken angespornt, stehe ich auf und ziehe Ghostbuster zu mir heran. Ich rücke die Satteltaschen zurecht, straffe den Gurt und steige auf. Jeder Meter des Weges schmerzt. Die schweißnassen Klamotten reiben an meiner wunden Haut. Mein Körper ist mit Blutblasen und Schürfwunden überzogen. Ich kann nicht mehr. Ich bin erschöpft. Aber ich muss weiter, solange ich noch die Kraft habe, mich im Sattel zu halten.

Gedankenkarussell

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hospital

 

an extract from a novel by Jeremias Winckler

Hamburg, Deutschland, 22.10.2017

Ein weiterer Tag geht zu Ende. Ich schließe meine Augen und tauche ab in ein schwarzes Meer. Die Dunkelheit umhüllt mich. Hier liege ich nun also. Alleine mit meinen Gedanken. Die sich drehen. Immer weiter. In nie endenden Kreisen. Ohne Anfang. Und ohne Ende. Der Schlaf will nicht kommen. Das Kissen ist unbequem. Ich rücke es zurecht. Es ist ein wenig klamm und zu warm. Viel zu warm. Vielleicht drehe ich es lieber um. So ist es besser. Bevor ich einschlafe, sollte ich noch mal auf die Toilette gehen, auch wenn ich eigentlich gar nicht muss. Ich öffne meine Augen, drehe mich auf meine Seite und gehe zum Bad. Krankenhaus riecht unausstehlich, so steril. Insbesondere das Bad. Nachdem ich für einige Minuten untätig auf der Toilette gesessen habe, gehe ich zurück zu Bett und decke mich zu. Eine Krankenwagensirene ertönt, gedämpft. In Wirklichkeit ist der Krankenwagen ganz in der Nähe. Doch das merkt man nicht. Die Fenster sind schallisoliert. Der Raum fühlt sich beengend an. Mein Zelt war mir lieber. Da konnte ich nachts die Geräusche des Waldes hören. Das Rascheln der Blätter. Das Schnaufen und Stampfen. Doch jetzt ist alles still. Ich versuche, mich auf meine Atmung zu konzentrieren. Das soll beim Einschlafen helfen, glaube ich. Vielleicht lenkt es mich ab. Von den Gedanken. Langsam fülle ich meine Lungen mit Luft. Sekunde für Sekunde. Und leere sie wieder. Mein Körper fühlt sich schwer an. Vielleicht schlafe ich endlich ein. Wenn ich viel schlafe, geht die Zeit schneller vorbei. Hoffentlich. Denn ich bin es leid. Wann kann ich endlich das Krankenhaus verlassen? Wann wird es mir endlich besser gehen? Wann wache ich aus diesem Albtraum auf? Ich kneife meine Augen zusammen. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich spüre, wie die salzigen Tropfen über meine Wangen laufen. Langsam. Konzentriere dich lieber auf deine Atmung. Das ist weniger schmerzhaft. Weniger beengend. Als der Gedanke. Der Gedanke des vergehenden Lebens. So dramatisch ist es gar nicht. Ich bin kein akuter Notfall. Ich habe ja nur Fieber. Mein Körper funktioniert und bekämpft das, was auch immer es ist, was ich in mir trage. Bald schon wird es mir besser gehen. Ich atme wieder aus. Langsam und kontrolliert. Dann streiche ich mir die Tränen von den Wangen. Dabei drücke ich etwas zu fest zu. Kleine weiße Punkte erscheinen in der Dunkelheit. Wie farblose Mandalas. Sich drehende Lichter in der Dunkelheit. Fluoreszierendes Gedankengut. Das mich umgibt, während ich falle. Immer weiter. Hinab in die Dunkelheit. Wie ein Stein unter Wasser, der dem Abgrund entgegentrudelt. Oben sehe ich das Lichtspiel der Sonne. Strahlen piercen die Oberfläche und erhellen das Nichts, bevor sie sich in der Endlosigkeit verlieren. Immer weiter. Immer tiefer. Schwerelos. Lautlos. Angezogen von der Finsternis in mir.